Konflikt der Patriarchen

Über Orthodoxie und Autokephalie 

Das Streben ukrainischer Politiker und Kirchenoberhäupter nach einer auto­kephalen Kirche in der Ukraine hat zu einem ernsten Konflikt zwischen dem Patriarchat in Moskau und dem Patriarchat von Konstantinopel geführt. Die Russische Orthodoxe Kirche sieht in den Vorbereitungen auf die Zuerken­nung der Autokephalie einen Angriff auf ihr kanonisches Gebiet und sprichtKonstantinopel das Recht ab, über die Autokephalie zu entscheiden. DieEskalation des Konflikts kann zu einem Schisma in der Weltorthodoxie führen. Dagegen ist die Gefahr gering, dass der Kirchenkonflikt zu einer Verschärfung des Krieges in der Ostukraine führen wird.

OSTEUROPA: In der Orthodoxie gibt es viele Kirchen, die Rolle des Patriarchen von Konstantinopel ist erheblich schwächer als die des Papstes in Rom. Warum ist das so?

Thomas Bremer: Die christliche Kirche ist als Gemeinschaft von selbstständigen Orts­kirchen entstanden und ist das auch lange Zeit geblieben. Im 11. Jahrhundert haben sich die westliche und die östliche Kirche im „Großen Morgenländischen Schisma“ (1054) ge­trennt. Ein päpstliches Primatsverständnis war zwar vorher schon vorhanden, doch erst im zweiten Jahrtausend hat sich der päpstliche Anspruch zu dem entwickelt, den wir heute kennen. Die Orthodoxie hat eher die altkirchliche Tradition bewahrt. Sie ist in selbst­ständige Kirchen gegliedert, und es gibt keine zentrale Instanz mit höchster Autorität.

OSTEUROPA: Die ROK betrachtet die heutige Ukraine als ihr kanonisches Territorium. Seit wann tut sie dies, und auf welche historischen Argumente stützt sie sich?

Bremer: Mit dem Vertrag von Andrusovo 1667 zwischen Polen-Litauen und dem Zaren­tum Russland ist die heutige Ostukraine staatlich und kirchlich unter die Kontrolle Mos­kaus geraten. Die Bedeutung der kirchlichen Vereinbarungen von damals ist umstritten. Moskau war ein aufstrebender, mächtiger Staat, das Patriarchat von Konstantinopel hatte im Osmanischen Reich nur beschränkte Handlungsmöglichkeiten. Die russische Kirche hat ihre Jurisdiktion immer über alle orthodoxen Gläubigen im Russischen Reich bzw. in der Sowjetunion erstreckt. Nur Georgien nach 1917 war hier eine Ausnahme. Bis vor kurzer Zeit hat Konstantinopel der Sichtweise, dass die Orthodoxie in der Ukraine von Moskau verwaltet wird, auch nicht widersprochen.

OSTEUROPA: In der Ukraine gibt es drei orthodoxe Kirchen. Wie kam es dazu?

Bremer: Während der Perestrojka, als die Religionsverfolgung in der UdSSR endete, bildeten sich in der Ukraine Kirchen, die vorher verboten waren. Dazu gehörten die griechisch-katholische („unierte“) Kirche, vor allem im Westen des Landes, und eine orthodoxe Kirche, die nicht von Moskau abhängig sein wollte und sich daher „Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche“ (UAOK) nannte. Diese Kirche führt sich auf eine Kirchengründung der 1920er Jahre zurück, die im stalinistischen Terror untergegangen war, sowie auf die Wiedergründung unter der deutschen Besatzung. Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte sie in der Emigration, vor allem in Nordamerika. Von dort kamen in den späten 1980er Jahren Priester und Bischöfe in die Ukraine und bauten Kirchen­strukturen auf. Auch die UAOK war zunächst vor allem im Westen des Landes stark. Das Oberhaupt des ukrainischen Exarchats der Russischen Orthodoxen Kirche, Metro­polit Filaret, versuchte zunächst, kirchliche Unabhängigkeit von Moskau zu erlangen und gründete, als ihm das nicht gelungen war, mit einigen Bischöfen des Moskauer Patri­archats und einigen der UAOK eine neue Kirche, die sich „Ukrainische Orthodoxe Kirche – Kiewer Patriarchat“ (UOK-KP) nannte. Die Kirche des Moskauer Patriarchats, zuvor die einzige im Lande, erhielt einen relativ hohen Grad an Autonomie, blieb aber in Ge­meinschaft mit Moskau und benannte sich in „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ um. Zur Unterscheidung wird sie UOK-MP genannt, obwohl der Zusatz „Moskauer Patriarchat“ nicht zur Selbstbezeichnung gehört. Sie kann ihre Bischöfe und ihr Oberhaupt, den „Metropoliten von Kiew und der ganzen Ukraine“, selbst bestimmen; der Moskauer Pat­riarch „segnet“ den Gewählten lediglich. Der Metropolit hat qua Amt Sitz im Moskauer Heiligen Synod, dem Leitungsgremium der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK).

OSTEUROPA: Welche der drei orthodoxen Kirchen ist die kanonische?

Bremer: Die Frage nach der Kanonizität ist sehr wichtig. Von den drei orthodoxen Kirchen wurde bislang nur eine, nämlich die UOK-MP, von den anderen orthodoxen Kirchen in der Welt anerkannt. Nur sie war kanonisch. Das heißt, dass Vertreter dieser anderen Kirchen, also etwa der griechischen oder der serbischen, nur mit den Priestern und Bi­schöfen der kanonischen Kirche in der Ukraine Kontakt hatten. Gemeinsame Gottes­dienste oder der Empfang der Sakramente in einer der anderen Kirchen waren nicht möglich, weil die beiden anderen Kirchen eben unkanonisch waren; sie wurden als schismatisch, als abgespaltene Gruppen betrachtet. Die UOK-MP hat bei weitem die größte Zahl von Gemeinden, und vermutlich auch eine sehr große, wenn nicht die größte Zahl von Gläubigen in der Ukraine. Zu den Gemeinden gibt es eine offizielle Statistik des Amtes für Nations- und Religionsangelegenheiten. Für die Gläubigen gibt es verschiedene Umfragen, die allerdings kein eindeutiges Bild abgeben, denn die Aussagen zur eigenen Kirchenzugehörigkeit schwanken sehr stark. Doch gibt es innerhalb der kanonischen Kirche ebenfalls starke Bestrebungen für eine Selbstständigkeit, die sich nach den politischen Ereignissen der letzten Jahre, also nach dem Majdan, der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine, noch verstärkt haben. Das hat die Führung der Russischen Orthodoxen Kirche in Moskau lange Zeit nicht registriert. Viele Menschen wollen aber offenbar zwar eine ukrainische Kirche, aber sie wollen zugleich nicht unkanonisch sein und bleiben daher in der UOK-MP.

OSTEUROPA: Was ist der strukturelle Hintergrund des aktuellen Konflikts?

Bremer: In der orthodoxen Kirche ist nicht klar, wie eine Kirche selbstständig, also „autokephal“ werden kann. „Autokephal“ ist eine Kirche, die ihr Oberhaupt selber be­stimmen kann und die Wahl von niemandem bestätigen lassen muss. Manche sind der Meinung, dass dafür die „Mutterkirche“ zuständig sei, also die Kirche, zu der die neue autokephale Kirche bisher gehört hat. Andere sagen, dass das Patriarchat von Konstan­tinopel das Recht dazu habe, oder wenigstens das Ökumenische Patriarchat – so lautet eine andere Bezeichnung für die Kirche von Konstantinopel – zusammen mit den anderen Kirchen. Es hat viele Bemühungen gegeben, in dieser Frage eine Übereinkunft zu erzielen. Im Sommer 2016 versammelten sich auf Kreta viele orthodoxe Kirchen zu einer „Großen und Heiligen Synode“. Das Thema wurde dort aber nicht verhandelt, weil man sich im Vorfeld nicht auf einen Textentwurf einigen konnte und die Beschlüsse konsensuell er­folgen sollten.  Dazu kommt, dass es zwischen den Patriarchaten von Konstantinopel und von Moskau seit längerem Auseinandersetzungen um die Frage gibt, welchen Umfang die Vorrang­stellung des Ökumenischen Patriarchats hat. Dieser Primat wurde in der Antike festge­legt, aber es wurde nicht geregelt, was er bedeutet. Nach einem alten Kanon übt das Patriarchat von Konstantinopel die Jurisdiktion über die Orthodoxen bei den „Barbaren“ aus, also dort, wo es keine eigenen orthodoxen Kirchen gibt (Kanon 28 des Konzils von Chalkedon aus dem Jahr 451). Das Moskauer Patriarchat hingegen beansprucht ein „kanonisches Territorium“ für sich, das neben dem Gebiet der früheren Sowjetunion auch Japan und China umfasst. Eine Ausnahme stellen Georgien und Armenien dar, wo es eigene orthodoxe Kirchen gibt. Über diese nicht kongruenten Ansprüche sind die beiden Patriarchate bereits mehrfach in Konflikt geraten, etwa als die ROK 1970 die Autokephalie der „Orthodox Church in America“ erklärte, die Kon­stantinopel bis heute nicht anerkennt, oder vor einigen Jahren in Bezug auf Estland.  Im Falle der Ukraine wird dieser Konflikt zwischen den beiden Patriarchaten erstmals in einem mehrheitlich orthodoxen Land ausgetragen. In Staaten, in denen die Orthodoxie eine Minderheit ist und es keine eigene orthodoxe Kirche gibt, wie etwa in Deutschland, wird es zwar als Problem erkannt, dass es mehrere Bischöfe für dasselbe Territorium gibt, also etwa einen griechischen, einen russischen, einen serbischen und einen rumä­nischen, aber man hat eine pragmatische Lösung gefunden. In „orthodoxen“ Staaten je­doch gibt es nur jeweils eine kanonische Kirche, also eine, die innerhalb der Weltorthodoxie anerkannt wird.

OSTEUROPA: Welche Kompetenzen sind mit der Autokephalie verbunden?

Bremer: Das Konzept der Autokephalie stammt aus der Spätantike. Es ist typisch für die Art, wie sich die orthodoxe Kirche organisiert. Voneinander unabhängige, auto­kephale Kirchen erkennen sich gegenseitig an und betrachten sich zusammen als die orthodoxe Kirche – und zwar Kirche im Singular. Zurzeit gibt es 14 Kirchen, deren autokephaler Status unbestritten ist. Um einige weitere – etwa die „Orthodox Church in America“ – gibt es Diskussionen. Neben der Autokephalie gibt es auch die Autonomie,eine Vorstufe. Autonome Kirchen haben eine (schwache) jurisdiktionelle Bindung zu ihrer Mutterkirche. In der Antike gab es fünf autokephale Patriarchate, die in einer bestimmten Rangfolge standen: Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem. Außerdem wurde der Kirche von Zypern autokephaler Status zuerkannt. Nach der Trennung zwi­schen der Ost-und der Westkirche übernahm Konstantinopel die erste Stelle. Das Moskauer Patriarchat war das erste der Neuzeit; es wurde 1589 anerkannt und steht heute an fünfter Stelle. Die anderen orthodoxen Kirchen stammen in ihrer heutigen Form aus dem 19. Jahrhundert.  Abgesehen von den ersten Rängen ist die Reihenfolge dieser Kirchen nicht unumstritten; Konstantinopel und Moskau führen die Listen in unterschiedlicher Reihenfolge. Histo­risch lassen sich also unterschiedliche Arten von autokephalen Kirchen erkennen: die aus der Antike stammenden, Moskau als Kirche des Russischen Reichs, und die durch die nationalen Impulse des 19. Jahrhunderts gebildeten Kirchen, deren Territorium mit dem der Nationalstaaten identisch war. Sie waren gewissermaßen die logische Folge der nationalen Unabhängigkeit der Staaten – analog zu dieser nationalen sollte es auch eine kirchliche Souveränität geben, eben die Autokephalie. Das Patriarchat von Konstantinopel war im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts in einer schwachen Position und musste so – oft mit einer Verzögerung von Jahrzehnten – diesen Autokephalien zustimmen. Manche von ihnen, so die Georgier, die Bulgaren und die Serben, beriefen sich auf die unabhängigen Kirchen in ihren mittelalterlichen Reichen. Es hat also in der Geschichte häufig Streitigkeiten um Autokephalien gegeben. Oft wurden sie einseitig ausgerufen und erst später anerkannt. Damit sind unterschiedliche Beziehungen der orthodoxen Kirchen zu den Staaten gege­ben, in denen sie leben. Die antiken Patriarchate leben seit Jahrhunderten als Minderheit in islamischen Gesellschaften. Ihre Jurisdiktion erstreckt sich – mit der Ausnahme Je­rusalems – auf mehrere oder sogar viele Staaten; so ist das Patriarchat von Alexandria für alle Orthodoxen in ganz Afrika zuständig. Zum Moskauer Patriarchat gehörten alle Orthodoxen im Russischen Reich bzw. in der Sowjetunion (1917 erklärten sich die Georgier für selbstständig); daher stammt auch der Anspruch auf das kanonische Territorium. Die im 19. Jahrhundert entstandenen Kirchen in Südosteuropa (Griechenland, Serbien, Ru­mänien, Bulgarien, später auch Albanien) beziehen ihre Jurisdiktion auf einen Staat. Serbien stellt nach dem Zerfall Jugoslawiens eine Ausnahme dar, über die noch zu spre­chen sein wird. Der imperiale Anspruch Russlands und der nationalstaatliche der anderen Kirchen kommen miteinander in Konflikt, wenn Gebiete aus Imperien ausscheiden und neue Nationalstaaten entstehen. Das ist der Fall in der Ukraine, aber auch etwa in Make­donien und Montenegro.

OSTEUROPA: Was bedeutet die Entscheidung des Ökumenischen Patriarchats, was die Reaktion des Moskauer Patriarchats?

Bremer: Das Ökumenische Patriarchat hob am 11. Oktober 2018 den unkanonischen Status der Oberhäupter der beiden nichtkanonischen Kirchen auf. Mit diesem Beschluss wurden auch ihre Anhänger in die Kirchengemeinschaft aufgenommen. Aus der Sicht von Konstantinopel sind sie jetzt kanonisch und können die Sakramente in den Kirchen von Konstantinopel empfangen. Dieser Schritt ist besonders problematisch beim Ober­haupt des sogenannten „Kiewer Patriarchats“, Filaret (Denysenko). Dieser 89-jährige Bischof war schon in der sowjetischen Zeit Metropolit von Kiew, damals also innerhalb der ROK. Im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Ukraine löste er sich von seiner Kirche, zog sich zunächst zurück, wirkte dann aber 1992 bei der Gründung des „Kiewer Patriarchats“ mit, dessen Oberhaupt er 1995 wurde. Ihm werden zahlreiche persönliche Verfehlungen und eine Zusammenarbeit mit den sowjetischen Sicherheits­behörden in seiner kirchenpolitischen Karriere nachgesagt. Sein Titel eines Patriarchenwird von keiner anderen Kirche anerkannt, und es ist nicht klar, als was ihn das Öku­menische Patriarchat nun anerkennt. Allerdings wird berichtet, dass er am 20. Oktober 2018 auf diesen Titel verzichtet haben soll und sich nun „Erzbischof von Kiew“ nennt. Das Ökumenische Patriarchat hat also Personen (Kleriker und Gläubige) als kanonisch anerkannt, aber keine Kirchenstrukturen. Es hat zudem zwei Bischöfe als Exarchen für die Ukraine entsandt. Der Synod der Russischen Orthodoxen Kirche, das höchste Entscheidungsgremium für die laufenden Angelegenheiten, hat am 15. Oktober 2018 beschlossen, die Kommunion-gemeinschaft mit der Kirche von Konstantinopel aufzuheben. Der Beschluss vom 14. September 2018, wonach Priester und Bischöfe nicht konzelebrieren dürfen, ist dadurch noch verschärft worden. Die jetzige Lage bedeutet, dass Angehörige der russischen Kirche mit der Kirche von Konstantinopel nicht mehr in Gemeinschaft stehen. Die Gläubigen dürfen in der anderen Kirche nicht mehr an den Sakramenten teilnehmen. In der Praxis trifft das vor allem Russen, die sich in der Türkei aufhalten, russische Pilger auf dem Berg Athos, der Konstantinopel untersteht, sowie Russen in Finnland, dessen orthodoxe Kirche ebenfalls zu Konstantinopel gehört. Es gab auch schon Stimmen aus der russischen Kirche, wonach diese nun parallele Kirchenstrukturen in der Türkei errichten solle. 

OSTEUROPA: Haben diese Entscheidungen der Russischen Orthodoxen Kirche weitere internationale Auswirkungen?

Bremer: Ja, die Entscheidung hat Konsequenzen für andere Länder und andere Kirchen. Die russische Kirche hat beschlossen, sich aus allen Gremien zurückzuziehen, denen ein Vertreter aus Konstantinopel vorsitzt. Aufgrund des Primats des Ökumenischen Patri­archats trifft das fast alle orthodoxen Einrichtungen in der nichtorthodoxen Welt. Sogibt es eine Orthodoxe Bischofskonferenz von Deutschland, der der Metropolit des Öku­menischen Patriarchats vorsitzt. Die drei russischen Bischöfe in Deutschland (einer des Moskauer Patriarchats und zwei der Auslandskirche) müssen nach dem Moskauer Be­schluss die Mitarbeit in der Bischofskonferenz einstellen. Das kann sehr konkrete Folgen haben, weil etwa Themen von gemeinsamem Interesse wie die Frage des Religionsunter­richts dort besprochen und beschlossen werden. Es ist gut möglich, dass die Handlungs­fähigkeit der Bischofskonferenz stark eingeschränkt wird. Darüber hinaus werden auch die zahlreichen Dialogkommissionen der Orthodoxie mit anderen Kirchen von Bischöfen des Ökumenischen Patriarchats geleitet. Daher ist zu erwarten, dass die zwischenkirchlichen Gespräche, an denen die Orthodoxie beteiligt ist, ebenfalls ins Stocken geraten. Es hat wenig Sinn, hier Entscheidungen zu treffen, wenn die größte orthodoxe Kirche nicht daran beteiligt ist.

OSTEUROPA: Der Streit um die Autokephalie ist auch ein Machtkonflikt zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem von Konstantinopel. Welche Machtressourcen haben die beiden Konfliktparteien?

Bremer: „Machtressource“ ist nicht die richtige Kategorie; zur Entscheidung des Kon­flikts sind andere Faktoren wichtiger. „Macht“ im klassischen politischen Sinne hat keiner der beiden. Der Patriarch von Konstantinopel kann sich auf die allgemein anerkannte kirchliche Tradition berufen, wonach er einen Primat innehat, aber dessen Umfang ist, wie gesagt, umstritten. Denkbar ist, dass die Kirchen griechischer Tradition – also Hellas, Zypern, Jerusalem, vielleicht auch Antiochien, Alexandrien und Albanien – auf seiner Seite stehen werden. Manche Kirchen werden auch bereit sein, die Ansprüche Moskaus in die Schranken zu weisen. Die ROK ist mit Abstand die größte orthodoxe Kirche – was wohl anders wäre, wenn alle Orthodoxen in der Ukraine sich zu einer Kirche vereinen würden. Das Moskauer Patriarchat hat traditionell großen Einfluss auf die Kirchen in Georgien und in Bulgarien. Die serbische Kirche ist eigentlich den Griechen nahe, steht aber aufgrund eigener Inter­essen eher auf der Seite Moskaus.

OSTEUROPA: Was bedeutet das für die Weltorthodoxie?

Bremer: Für die Weltorthodoxie wird wichtig sein, wie sich die anderen autokephalen Kirchen verhalten. Bisher scheinen sie sich eher zurückzuhalten und Gemeinschaft mit beiden Patriarchaten halten zu wollen. Sollte sich das jedoch ändern und einige Kirchen sich auf die eine, andere Kirchen sich auf die andere Seite stellen, dann wird wohl ein Schisma innerhalb der Orthodoxie die Folge sein. Die Russische Orthodoxe Kirche hat mehrfach die Einberufung einer Versammlung aller orthodoxen Kirchen verlangt; bisher ist aber nicht abzusehen, dass es zu einer solchen kommt. Die Tatsache, dass Moskau das Konzil von 2016 boykottiert hat, an dem eigentlich alle Kirchen teilnehmen sollten, spielt hier wohl auch eine Rolle.

OSTEUROPA: Welche weitere Entwicklung erwarten Sie in der Ukraine?

Bremer: Zu erwarten ist, dass die beiden in die Ukraine entsandten Exarchen eine Bi­schofsversammlung einberufen, zu der alle orthodoxen Bischöfe der Ukraine – also aus allen drei Kirchen – eingeladen werden. Diese Bischöfe sollen die beiden unkanonischen Kirchen auflösen, eine Kirchenorganisation gründen und ein Oberhaupt wählen. DasÖkumenische Patriarchat würde dann dieser Kirche die Autokephalie verleihen. Damit bestünden zwei orthodoxe Kirchenorganisationen in einem Land. Entscheidend wird sein, wie viele Bischöfe der UOK-MP der neuen Struktur beitreten werden. Sie hat etwa 85 Bischöfe. Wenn nur wenige beitreten, wird sich die Situation anders entwickeln, als wenn es relativ viele sein würden. Die UOK-MP wird die neue Kirche kaum als kanonisch anerkennen, während das um­gekehrt kein Problem sein dürfte. Damit stellen sich natürlich viele weitere Fragen. Wer ist denn dann der legitime orthodoxe Bischof von Odessa oder Charkiw? Es wird in allen größeren Orten der Ukraine zwei Bischöfe geben, die Kanonizität beanspruchen und sich gegenseitig Konkurrenz machen. Das widerspricht einem Grundprinzip der Ekklesiologie, dass es in einer Stadt nur einen Bischof geben kann. Außerdem gibt es Konflikte zwischen der UAOK und der UOK-KP, die nicht einfach dadurch behoben werden, dass sich die Kirchen auflösen. So sind bereits mehrere Ver­suche zu einer Einigung daran gescheitert, dass die UOK-KP ihren Namen als den einer geeinten Kirche beibehalten wollte, und Metropolit Makarij, das Oberhaupt der UAOK, hat schon Bedenken gegen den jetzigen Plan geäußert. Die Entscheidung von Konstan­tinopel wird also kaum dazu beitragen, Kircheneinheit herzustellen, obgleich das immer wieder als Ziel betont wurde.

OSTEUROPA: Welche Rolle spielen die Ambitionen von Präsident Petro Porošenko kurz vor den Präsidentschaftswahlen bei diesem Konflikt?

Bremer: Mehrfach hat Präsident Porošenko eine solche Autokephalieerklärung ver­langt. Das haben auch manche seiner Vorgänger und das ukrainische Parlament getan. Viele Politiker haben das Ökumenische Patriarchat in Konstantinopel besucht, um diesen Wunsch zu überbringen. Porošenko hat auf die politische und strategische Bedeutung einer solchen Entscheidung verwiesen. Zugleich gibt es mehrere Gesetzesvorhaben, die sehr deutlich gegen die UOK des Moskauer Patriarchats gerichtet sind. So solle etwa eine Kirche nicht „ukrainisch“ heißen dürfen, wenn ihre Zentrale in einem vom Parla­ment als Aggressor erklärten Staat liegt. Dagegen gab es Proteste internationaler kirch­licher Organisationen. Im März 2019 finden in der Ukraine Präsidentschaftswahlen statt. Porošenkos Umfrage­werte sind schlecht. Er erhofft sich von der erfolgreichen Gründung einer Nationalkirche politischen Kredit. Angesichts des Krieges in der Ostukraine ist die nationale Rhetorik stets mit antirussischen Elementen aufgeladen. Ein großes Problem ist, dass die Autokephalie ja ein kirchliches Konzept ist. Es geht um die innerkirchliche Frage, wie sich die Orthodoxie organisiert. Die einzige kanonische Kirche im Land hat jedoch keine Autokephalie beantragt. Hinter der Idee stehen als Initiatoren vor allem politische Eliten. Auch wenn eine solche Kirche von vielen Ukrainern begrüßt würde, so wird ihr doch der Makel anhaften, eine Institution zu sein, die aus politischen Gründen entstanden sind – die kirchlichen Beweggründe sind ja keineswegs neu. Der Vorwurf, der häufig gegenüber orthodoxen Kirchen und vor allem gegenüber der ROK erhoben wird, dass sie zu staatsnah seien, ist der neuen ukrainischen Kirche geradezu in ihre Gründungsgeschichte eingeschrieben.

OSTEUROPA: Welche Rolle spielt die Kirche für die ukrainische Nationsbildung, insbe­sondere nach dem Majdan?

Bremer: Für die Nationsbildung war vor allem die griechisch-katholische Kirche wichtig. Die orthodoxe Kirche war immer unter Moskauer Kontrolle. Das zeigte sich nach der Revolution von 1917, als viele Kleriker und Gläubige eine ukrainische orthodoxe Kirche bilden wollten, aber keinen einzigen Bischof fanden, der das Anliegen unterstützt hätte. Die Ukraine war historisch stets eine wichtige Quelle für die ROK – das gilt sowohl für theologische Impulse als auch für das Personal, zumal die Religiosität in der Ukraine immer höher war als in Russland. Während des Majdan gab es Kleriker und Gläubige der UOK-MP, die den Widerstand unterstützten, als auch solche, die ihn ablehnten. Die anderen Kirchen unterstützten ein­hellig den Umsturz und ermunterten die Demonstranten. Bemerkenswert ist, dass auch die ROK offiziell keine Stellungnahmen abgab, in der sie eindeutig für eine Seite Position bezogen hätte. Patriarch Kirill sagte mehrfach – und das auch mit einigem Recht –, dass seine Kirche die einzige sei, die Angehörige auf beiden Seiten der Barrikaden hat. Die Ereignisse des Majdan hatten für die UOK-MP zwei Konsequenzen: Einerseits wandten sich mehr Menschen von ihr ab. Ganze Gemeinden schlossen sich einer anderen Kirche an, zumeist der UOK-KP. Die Umstände dieser Konversionen sind manchmal umstritten, angeblich werden organisiert Gruppen in Bussen in Gemeinden gebracht, die dann – oft unter Gewaltandrohung – den Übertritt durchführen. Überprüfen lässt sich das nicht. Andererseits wurden auch die proukrainischen Kräfte in der UOK-MP gestärkt, die es immer gegeben hat. Viele Vertreter der Kirche identifizierten sich nun noch deut­licher mit der Ukraine und traten für die politischen Veränderungen und die Hinwendung zu Europa ein. Allerdings gibt es nach wie vor in der Kirche Menschen, die das eher skeptisch sehen. Interessant ist auch, dass die UOK-MP weiter für ihre drei Bistümer auf der Krim zu­ständig ist. Die ROK hat sie nicht unter die Kontrolle der Moskauer Zentrale gestellt. Die UOK-MP hat auch eine Erklärung des „Allukrainischen Rates der Kirchen und Reli­gionsgemeinschaften“ mitgetragen, die die „territoriale Integrität der Ukraine“ unter­streicht, also einschließlich der Krim.

OSTEUROPA: Gibt es weitere Teilkirchen auf dem Territorium, das das Moskauer Pat­riarchat als sein kanonisches betrachtet, die versuchen könnten, einen ähnlichen Weg wie die Ukrainische Orthodoxe Kirche zu gehen?

Bremer: Nein, nirgendwo gibt es eine ähnliche Situation. Die Belarussische Orthodoxe Kirche, die von niemandem anerkannt ist, ist sehr klein. In Estland hat es vor einigen Jahren einen Konflikt zwischen dem Ökumenischen und dem Moskauer Patriarchat ge­geben, der damit endete, dass es dort jetzt zwei Kirchen gibt, eine sehr kleine des Öku­menischen Patriarchats und die des Moskauer Patriarchats, der die meisten Gläubigen und Gemeinden angehören. Die Situation unterscheidet sich aber von der in der Ukraine, da Estland kein traditionell orthodoxes Land ist – auch wenn dort heute die Orthodoxie die größte Glaubensgemeinschaft ist.

OSTEUROPA: Welche Auswirkungen hat dieser Konflikt auf die anderen orthodoxen Kirchen etwa in Georgien oder in Serbien?

Bremer: Interessant ist vor allem Serbien. Dessen Kirche beansprucht die Jurisdiktion über die Orthodoxen in Makedonien und in Montenegro. In Makedonien wurde noch in kommunistischer Zeit mit Hilfe der damaligen Regierung eine selbstständige orthodoxe Kirche gegründet, und der serbischen Kirche wurde es verwehrt, dagegen vorzugehen. Diese Gründung diente der Bestätigung der makedonischen Nation gegen griechische und auch serbische Ansprüche. Auch die jetzige Regierung Makedoniens geht konse­quent gegen die Serbische Orthodoxe Kirche vor und verhindert, dass sie im Land aktiv ist. Die Makedonische Orthodoxe Kirche, die praktisch alle orthodoxen Gläubigen im Land umfasst, ist von keiner anderen Kirche anerkannt. Auch nach einer möglichen Umbenennung des Staates in Nord-Makedonien wird sich die kirchliche Situation wohl nicht ändern. In Montenegro gibt es die serbische Kirche als kanonische Institution mit der Mehrheit der Gläubigen und Gemeinden, und eine kleine, unkanonische montenegri­nische Kirche, die vor allem von national orientierten Intellektuellen unterstützt wird. Sie hat ebenfalls keine Chancen auf Anerkennung, auch wegen ihres Oberhauptes, eines von Konstantinopel exkommunizierten Priesters. In Abchasien hat sich eine eigene orthodoxe Kirche gebildet. Sie wird allerdings auch von der ROK nicht anerkannt; kirchenrechtlich gehört dieses Gebiet also auch aus Mos­kauer Sicht zur Georgischen Orthodoxen Kirche.

OSTEUROPA: Und was sagen Sie zu der Befürchtung, dass der Kirchenkonflikt den Krieg in der Ostukraine verschärfen wird?

Bremer: Ich glaube nicht, dass der Krieg in der Ostukraine durch die Ereignisse ver­schärft wird. Die dortigen Machthaber unterstützen die UOK-MP und gehen massiv gegen alle anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften vor, und zwar nach meinem Ein­druck noch konsequenter als die Behörden auf der Krim, die verlangen, dass Kirchen sich nach dem russländischen Religionsgesetz registrieren lassen, sie aber nicht einfach verboten haben. Die Machthaber im Donbass aber werden keine Gemeinden einer neuen Kirche zulassen. Wenn sie militärisch vorgehen wollen, finden sie dafür sehr einfach andere Anlässe.

 

——— Thomas Bremer (1957), Dr. theol., Theologe, Professor für Ostkirchenkunde an der Univer­sität Münster Von Thomas Bremer erschien zuletzt in OSTEUROPA: Diffuses Konzept. Die Russische Orthodoxe Kirche und die „Russische Welt“, in: OE, 3/2016, S. 3–18. – Das Jahrhundert der Kriege. Die Rus­sische Orthodoxie, der Krieg und der Friede, in: OE, 2–3/2014, S. 279–290. – Gott und die Welt. Kirche und Religion in Osteuropa, in: Glaubenssache. Kirche und Politik im Osten Eu­ropas [= OE, 6/2009], S. 7–28 (gemeinsam mit Jennifer Wasmuth).

OSTEUROPA, 68. Jg., 8–9/2018, S. 99–108