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Häresie, Nonkonformität, Dissidententum? Religiös motivierte Abweichung
in Osteuropa im „langen“ 19. Jahrhundert

Themenheft in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung (ZfO)

Herausgegeben von:

Dr. Agnieszka Zagańczyk-Neufeld (Ruhr-Universität Bochum)
PD Dr. Agnieszka Pufelska (Nordost-Institut an der Universität Hamburg)

Die Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung / Journal of East Central European Studies
(ZfO) ist eine führende Fachzeitschrift für geschichtswissenschaftliche Studien über
Ostmitteleuropa und wird von einem international besetzten Gremium renommierter
Wissenschaftler*innen herausgegeben. Die ZfO erscheint im Druck sowie im Open Access
(
www.zfo-online.de). Von den vier Ausgaben pro Jahr werden in der Regel zwei von Gast-
Herausgeber*innen als Themenhefte gestaltet.

Das geplante Themenheft widmet sich der religiös motivierten Abweichung in Osteuropa im
„langen“ 19. Jahrhundert, das durch die Teilungszeit Polen-Litauens umrahmt wird (ca.
1772/1795-1918). Im osteuropäischen Kulturraum, an der Grenze zwischen dem lateinischen
und dem orthodoxen Christentum, der durch katholische, protestantische, orthodoxe und
jüdische Glaubenswelten geprägt war, fanden jahrhundertelang Kulturkontakte statt, die in
uneindeutigen, dissidentischen und multiplen religiösen Zugehörigkeiten resultierten.

Die soziopolitische Bedeutung religiöser Nonkonformisten für die Entstehung der
Zivilgesellschaft und des modernen Rechtsstaats wird in der gegenwärtigen Forschung zwar
erkannt, doch die meisten Studien betreffen ausschließlich religiöse Dissidenz in der westlich-
lateinischen Kirche. Dem osteuropäischen Kulturraum wurde dagegen viel zu wenig
Aufmerksamkeit geschenkt. Gut erforscht sind protestantische Einflüsse und Netzwerke in
Ost(mittel)europa. Kontakte zwischen osteuropäischen Katholiken, Orthodoxen und Juden
sowie die sich daraus ergebenden Synkretismen wurden dagegen nur ansatzweise behandelt.
Die homogenisierende Geschichtspolitik wird bedauerlicherweise in vielen osteuropäischen
nationalen Historiographien seit dem 19. Jahrhundert bis heute reproduziert, da eine
vermeintliche religiöse Homogenität als ein wichtiger politischer Beweis in Debatten über
Existenzberechtigung und Legitimierung territorialer Ansprüche osteuropäischer „Nationen“
dient.

Allerdings gibt es gute Gründe anzunehmen, dass religiöser Nonkonformismus, religiöse
Dissidenz und Abweichung jahrhundertelang ein Teil des alltäglichen Lebens in Osteuropa
waren. Wir gehen davon aus, dass religiöse Abweichung eine wichtige Form des
gesellschaftlichen Protestes gegen politische Versuche war, osteuropäische Gesellschaften zu
homogenisieren. Es gilt daher, die als soziale Spannungen, vermeintliche oder tatsächliche
Missstände, Leid, Hoffnungs- und Trostlosigkeit wahrgenommenen Zustände zu eruieren, die
als mögliche Gründe oder Motivationen für religiöse Abweichung gelten können.

Indem wir vielfache Ursachen der religiös motivierten Abweichung erkennen, versuchen wir
auch Begriffe zu analysieren, die zur Bezeichnung der Abweichung genutzt werden. Nicht
zuletzt aufgrund der neusten Debatte über eine gerechte Sprache stehen Forschungen zu
verschiedenen Arten von Abweichungen vor einem schwerwiegenden Dilemma, wie
heutzutage mit aus unserer Sicht diffamierenden Beschreibungen der „Andersartigkeit“ der
Menschen umgegangen werden soll. So erhoben sich beispielweise Einwände gegen die
Nutzung des Sektenbegriffs als Forschungskategorie.

Die existierenden disziplinären (z. B. zwischen der Osteuropaforschung und den Jüdischen
Studien, oder zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft) und nationalen Trennlinien
verhinderten es, religiöse Dissidenz in katholischer, protestantischer, orthodoxer und
jüdischer Tradition miteinander zu vergleichen. Das Themenheft strebt an, die geographisch
und disziplinär verstreute Forschung zum religiösen Nonkonformismus zusammen zu
bringen, um wichtige Einblicke in religiöse Abweichung als kulturelle Praxis und als
begriffliche Problematik anzubieten. Schließlich wollen wir zu einer weiteren
Forschungsdebatte zu diesen Themen einladen.

Wir freuen uns auf Einreichungen aus verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen
sowie benachbarten Disziplinen, die sich mit folgenden Aspekten befassen:

Mikrostudien, Fallbeispiele über Selbst- und Fremdwahrnehmung der Abweichung,
soziale Zusammensetzung der Gemeinschaften, gelebte Normen und Praktiken,
Formen der sozialen Kontrolle, Interaktionen mit dem lokalen Umfeld und/oder mit
staatlichen und religiösen Autoritäten
interreligiöse Begegnungen, Vergleiche: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen verschiedenen Abweichler-Gruppen, Mobilität der Abweichler,
interkulturelle Kontakte und ihre Folgen, synkretistische Glaubensformen

theoretische und begriffliche Zugänge. Zur Bezeichnung religiöser Abweichung
werden unterschiedliche Begriffe genutzt: Häresie, Devianz, Sekte, Nonkonformität,
Dissidenz, Heterodoxie, Abspaltung, Ambiguität, Vielfalt, Hybridität, Synkretismus,
Multireligiosität, Neue Religiöse Bewegungen. Dabei werden die Akzente
unterschiedlich gesetzt: Wir haben mit anachronistischen, politisierten, positiv wie
negativ konnotierten Beschreibungen zu tun. Wie kann religiöse Abweichung in
Osteuropa definiert werden?

innovative oder bisher nicht berücksichtigte Quellen. Welche Quellen zur Geschichte
der religiös motivierten Abweichung in Osteuropa stehen uns zur Verfügung? Welche
Quellenbestände können neu befragt werden? Was wurde bisher wenig beachtet?

Besonders interessieren uns Beiträge, die sich geographisch auf religiöse Abweichung in
Polen, im Baltikum, in Belarus, in der Ukraine und in Russland fokussieren.

Bitte senden Sie Ihren Beitragsvorschlag in Deutsch oder Englisch (bis 500 Wörter) mit einer
Kurzbiographie an Agnieszka Zaganczyk-Neufeld (
agnieszka.zaganczyk-Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)
oder Agnieszka Pufelska (
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!) bis zum 31. März 2022. Die ausgewählten
Beiträge (im Umfang von höchstens 65 000 Zeichen) sollen bis zum 31. Oktober 2022
eingesandt werden (bitte beachten Sie dabei die Richtlinien für Autor/inn/en der ZfO,

https://www.zfo-online.de/portal/index.php/zfo/about/submissions#authorGuidelines
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